Bundesgerichtshof zum "Tagebuchstreit"
Der unter anderem für das allgemeine Persönlichkeitsrecht zuständige VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass private Tagebuchaufzeichnungen, die von den Strafverfolgungsbehörden beschlagnahmt worden sind, keine "amtlichen Dokumente" des Strafverfahrens im Sinne von § 353d Nr. 3 StGB darstellen. Er hat das gegenüber einem Presseverlag ausgesprochene Verbot der wörtlichen Wiedergabe von Tagebuchauszügen aufgehoben.
Sachverhalt:
Der Kläger ist Bankier. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn wegen des Vorwurfs der Steuerhinterziehung im Zusammenhang mit sogenannten Cum-Ex-Geschäften. Im Jahr 2018 wurden die Tagebücher des Klägers im Rahmen des Ermittlungsverfahrens beschlagnahmt.
Die Beklagte veröffentlichte auf der von ihr betriebenen Internetseite www.sueddeutsche.de am 4. September 2020 unter der Überschrift "Notizen aus der feinen Gesellschaft" einen Artikel, der sich mit einer möglichen Einflussnahme der Hamburger Politik auf Entscheidungen der Finanzbehörden im Zusammenhang mit Steuerrückforderungen nach Cum-Ex-Geschäften beschäftigt. Die Beklagte zitierte in diesem Artikel wörtlich aus den Tagebüchern, deren Inhalt ihr nach der Beschlagnahme bekannt geworden ist. Der in dem Artikel behandelte Verdacht einer möglichen Einflussnahme der Hamburger Politik auf Entscheidungen der Finanzbehörden ist Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Hamburg.
Bisheriger Prozessverlauf:
Das Landgericht hat die Veröffentlichung von 16 Textpassagen verboten. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten im Wesentlichen zurückgewiesen. Es hat das vom Landgericht ausgesprochene Verbot lediglich in Hinblick auf zwei Textpassagen eingeschränkt, die zwischenzeitlich von Anwälten des Klägers in Sitzungen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses verlesen worden waren. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Die Revision hatte Erfolg. Dem Kläger steht gegen die Beklagte unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch auf Unterlassung der wörtlichen Wiedergabe der beanstandeten Textpassagen aus seinen Tagebüchern zu.
Ein solcher Anspruch ergibt sich zunächst nicht aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, § 823 Abs. 2 BGB, § 353d Nr. 3 StGB unter dem Gesichtspunkt der Verletzung eines Schutzgesetzes.
Die Bestimmung in § 353d Nr. 3 StGB kann, so wie sie bislang und auch von den Vorinstanzen verstanden worden ist, nicht als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs. 2 BGB angesehen werden. Zwar dient die Norm auch dem Schutz des von einem Strafverfahren Betroffenen vor einer vorzeitigen Bloßstellung. Nach dem Wortlaut und dem bisherigen Verständnis lässt die Norm aber die abstrakte Gefährdung der von ihr geschützten Rechtsgüter genügen. Auf die Frage, ob die Schutzgüter durch die in Rede stehende Veröffentlichung im konkreten Einzelfall tatsächlich beeinträchtigt oder gar verletzt worden sind, kommt es danach nicht an. Sie setzt insbesondere nicht die sonst zur Feststellung einer Persönlichkeitsrechtsverletzung erforderliche einzelfallbezogene Abwägung der widerstreitenden Interessen voraus. Mit dem Inhalt, der der Norm nach dem Wortlaut und dem bisherigen Verständnis zukommt, kann die Bestimmung damit im Einzelfall in Konflikt mit Art. 5 Abs. 1 GG und Art. 10 EMRK geraten. Unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs des Normengefüges ist es haftungsrechtlich nicht vertretbar, den zivilrechtlichen Rechtsgüterschutz in der Weise vorzuverlagern, dass die deliktische Einstandspflicht unabhängig von einer tatsächlich eingetretenen Beeinträchtigung des Schutzguts und losgelöst von einer einzelfallbezogenen Abwägung mit den entgegenstehenden Rechten Dritter aus Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 10 EMRK an die abstrakte Gefahr der Bloßstellung eines Verfahrensbetroffenen geknüpft wird. Die Belange der Verfahrensbetroffenen sind auch ohne die Verwirklichung einer so weitgehenden Rechtsfolge ausreichend abgesichert. Ihnen stehen Schadensersatz- und Unterlassungsansprüche aus § 823 Abs. 1, § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, Art. 1, Art. 2 Abs. 1 GG zu, sofern sie durch eine Berichterstattung über den Inhalt amtlicher Schriftstücke in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt werden.
Unabhängig davon sind auch die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 353d Nr. 3 StGB nicht erfüllt. Bei den privaten Tagebuchaufzeichnungen des Klägers, die aufgrund eines von der Staatsanwaltschaft erwirkten Durchsuchungsbeschlusses des Amtsgerichts Köln beschlagnahmt wurden, handelt es sich nicht um "amtliche Dokumente" des Strafverfahrens. In Hinblick auf die Gewährleistungen in Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 10 EMRK und Art. 103 Abs. 2 GG verbietet sich ein weites Begriffsverständnis. Die Bestimmung erfasst daher nicht die Aufzeichnungen privater Urheber. Derartige Aufzeichnungen verwandeln sich nicht dadurch in amtliche Dokumente, dass sie von den Strafverfolgungsbehörden beschlagnahmt worden sind oder in sonstiger Weise zu Zwecken des Verfahrens in den Gewahrsam einer daran mitwirkenden Behörde gelangen. Hätte der Gesetzgeber auch Dokumente privater Urheber dem Tatbestand des § 353d Nr. 3 StGB unterstellen wollen, so hätte er dies durch die Bezeichnung "amtlich verwahrte Dokumente" klar zum Ausdruck bringen können und angesichts seiner Verpflichtungen aus Art. 103 Abs. 2 GG auch zum Ausdruck bringen müssen.
Der geltend gemachte Unterlassungsanspruch ergibt sich auch nicht aus § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB. Zwar berührt die wortlautgetreue Wiedergabe von Auszügen aus den Tagebüchern des Klägers sein allgemeines Persönlichkeitsrecht in den Ausprägungen der Vertraulichkeitssphäre und des sozialen Geltungsanspruchs.
Die Beeinträchtigung der Vertraulichkeitssphäre und des sozialen Geltungsanspruchs des Klägers ist aber nicht rechtswidrig. Das von der Beklagten verfolgte Informationsinteresse der Öffentlichkeit und ihr Recht auf Meinungs- und Medienfreiheit überwiegen das Interesse des Klägers am Schutz seiner Persönlichkeit. Die Rechte des Klägers sind durch wörtliche Wiedergabe seiner Tagebuchaufzeichnungen nur in verhältnismäßig geringem Maß beeinträchtigt worden. Demgegenüber kommt dem Grundrecht der Beklagten auf Meinungs- und Medienfreiheit im Streitfall ein besonders hohes Gewicht zu. Mit der wortlautgetreuen Wiedergabe der Tagebuchaufzeichnungen hat die Beklagte einen Beitrag zum geistigen Meinungskampf in einer die Öffentlichkeit in höchstem Maße berührenden Frage geleistet, die auch Gegenstand eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Hamburg ist. Das überragende Informationsinteresse der Öffentlichkeit erstreckt sich auch auf die Wiedergabe der Tagebuchaufzeichnungen im Wortlaut. Den wörtlichen Zitaten kommt ein besonderer Dokumentationswert im Rahmen der Berichterstattung zu. Sie dienen dem Beleg und der Verstärkung der Aussage der Beklagten, es dränge sich der Verdacht auf, dass hochrangige Hamburger Politiker Einfluss auf Entscheidungen der Finanzbehörden im Zusammenhang mit Steuerrückforderungen nach Cum-Ex-Geschäften genommen hätten. Dies hat der Kläger hinzunehmen.
Quelle:
Bundesgerichtshof | Urteil vom 16. Mai 2023 | Aktenzeichen VI ZR 116/22
Vorinstanzen:
LG Hamburg - 324 O 502/20 - Urteil vom 5. März 2021
OLG Hamburg - 7 U 25/21 - Urteil vom 22. März 2022
Stand: 25.05.2023